Erst durch die Grundlagen und notwendigen Unterscheidungen kommt die kompensatorische Erziehung überhaupt in den Blick. Die Fragen lauten dann aber, ob eine kompensatorische Erziehung überhaupt möglich ist, und wenn ja, dann wie?
Können bekannter Weise z.B. einzelne Phobien des Hundes durch Verhaltenstraining (geleitete Habituation) beseitigt werden, so gilt dies nicht bei tiefgreifenden Störungen, die aus Problemen auf der 1. Stufe der Soziogenese hervorgegangen sind.
Hierzu zählen u.a. keine oder schlechte Erfahrungen im Umgang mit Menschen und der Welt, fehlende Möglichkeit zur Orientierung am Menschen und damit zur Habituation an verschiedene Umweltreize …
Die Komplexität der Problematik des Hundes wird häufig überhaupt erst sichtbar, nachdem er leinenführig gemacht wurde. Wenn ein Hund an Un-Sicherheitsgeschirr und Schleppleine immer zieht, dann ist es nicht möglich, Unterschiede im Verhalten des Hundes festzustellen.
Anfangs sah es bei Bobby (siehe „Der natürliche Weg zum souveränen Hund„) so aus, dass er „nur“ Aggressionen in allen Varianten (Status-Aggression, Ressourcen-Aggression …) hatte und entsprechend mit Schnappen reagierte.
Erst nach etablierter Leinenführigkeit wurde deutlich, dass er ein Angsthund war, der sich vor allem und jedem gefürchtet hat. (Was kein Wunder ist, war er doch die ersten zwei Jahre die meiste Zeit alleine eingesperrt.)
War die „Gefahr“ lokalisierbar, so wurden Fussgänger, Radfahrer … attackiert. War dagegen der Angstauslöser nicht lokalisierbar, wie bei Schüssen, Gewitter etc. dann fiel Bobby in den Fluchtmodus, war kaum noch zu halten.
Zudem war es für Bobby am Anfang sehr schwierig, sich am Menschen zu orientieren, insbesondere in kritischen Situationen. Er wurde sofort wieder Solitär-Hund mit einer ausgeprägten Flucht-oder-Kampf Reaktion.
Die kompensatorische Erziehung brauchte ca. 1.000 Stunden (ein Jahr lang jeden Tag ca. 3 Stunden) gemeinsamen Handelns in der Welt, gemeinsamen Ringens mit seinen Ängsten, dauerndes Einfordern der Orientierung an einem, um durch Orientierung die Habituation an viele neue Reize zu erleichtern.
Hierzu musste man bei Bobby erst einmal den Rang eines „important other“ erringen, was bei einem intelligent-dominanten Rüden wie ihm nicht einfach war.
Eine vorherige Kastration als vermeintliche Lösung der Probleme hatte keinerlei Effekt gehabt.
Bobby fiel immer wieder in seine alten Verhaltensweisen zurück, vor allem wenn man nicht bei ihm war, nicht im Hier und Jetzt, sondern abgelenkt, in seinen eigenen Gedanken.
Für Retraumatisierungen war er hochgradig anfällig, und hatte häufiger flash-backs, bei denen er – unvorhersehbar – plötzlich vollkommen unkontrollierbar wurde.
Heute ist Bobby meistens ein gut orientierter, souveräner und entspannter Hund. Es gibt immer noch Rückfälle, aber nicht mehr so stark und häufig wie früher. Und er entwickelt sich immer noch positiv.
Fazit: Die kompensatorische Erziehung von Hunden ist möglich.
Notwendig sind die hier dargelegten Grundlagen und Unterscheidungen, die Fähigkeit zum „important other„, sehr viel Zeit, Energie und Geduld.